"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 21. Februar 2016

Die unkritischen Kritiker

In einer Woche wird in Los Angeles die achtundachtzigste Verleihung der Academy Awards stattfinden. Ein Ereignis, für das ich normalerweise wenig Interesse aufzubringen vermag, finde ich das Spektakel von Luxus und eitler Selbstverliebtheit, das Hollywoods Elite zu diesem Anlass alljährlich veranstaltet, doch weder sonderlich spannend noch besonders sympathisch. Und die dabei verliehenen Preise können allerhöchstens als Gradmesser für den intellektuellen, kulturellen und moralischen Zustand im filmerischen Establishment dienen, mit der Würdigung künstlerischer Brillianz haben die Oscars nie wirklich etwas zu tun gehabt.

In diesem Jahr freilich hat die Oscar-Verleihung bereits in ihrem Vorfeld für eine heftige Kontroverse sowohl in den "offiziellen" Medien als auch in den Weiten des Internets gesorgt. Der Umstand, dass sich unter den nominierten Schauspielern & Schauspielerinnen keine Farbigen befinden und Streifen wie Beast Of No Nation, Creed und vor allem Straight Outta Compton nicht für die Kategorie "Bester Film" nominiert wurden, hat heftige Kritik an der mangelnden Diversität in Hollywood, mitunter auch offene Rassismus-Vorwürfe gegen die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) ausgelöst. Spike Lee, Jada Pinkett Smith, Will Smith sowie der altgediente "Aktivist" Al Sharpton haben sogar mehr oder minder offen zum Boykott der Feierlichkeiten aufgerufen.

In der Tat wäre eine größere Diversität sowohl vor als auch hinter der Kamera mehr als wünschenswert.  Auch lässt sich wohl nicht ernsthaft bezweifeln, dass vor allem Frauen, aber sicher auch Angehörige ethnischer oder anderer Minderheiten, in der Filmindustrie nachwievor mit zahllosen Vorurteilen und Ungerechtigkeiten zu kämpfen haben. Von der Tatsache, dass rassistische, sexistische oder andere Stereotypen im amerikanischen Mainstream-Kino immer noch erschreckend weit verbreitet sind, mal ganz zu schweigen.
Dennoch kann ich mich dem Aufruhr um die "All-White Oscars"  nicht vorbehaltlos anschließen. Und der Grund dafür ist in erster Linie nicht, dass ich für einige seiner lautstärksten Anführer wenig übrig habe. Ja,ich hege keinerlei Sympathie für den politischen Scharlatan und Millionär Al Sharpton, und ich finde Spike Lees periodische Selbstinszenierungen als "Rebell" und "Underdog" angesichts seiner unangefochtenen Stellung im Hollywood-Establishment und der durch und durch konformistischen Qualität seiner Filme inzwischen bloß noch peinlich. Aber das ändert nichts daran, dass viele derjenigen, die ihren Unmut über die Nominierungen zum Ausdruck bringen, ohne Frage von ehrlicher Wut über real existierende Missstände angetrieben werden.
Was mir bei dem Ganzen Probleme bereitet, ist, dass mir die meisten dieser Kritiker & Kritikerinnen ironischerweise eine äußerst unkritische Haltung gegenüber dem allgemeinen Zustand des amerikanischen Films an den Tag zu legen scheinen. Dass sie zum Anlass für ihren Protest ausgerechnet Hollywoods alljährlichen Jahrmarkt der Eitelkeiten genommen haben und sich in ihrer Kritik auf die Vergabe der Oscars und die Zusammensetzung der AMPAS konzentrieren, scheint mir in dieser Hinsicht symptomatisch.

Trotz ihres pompösen Namens war die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nie ein Hort der reinen Filmkunst. Als Louis B. Mayer  Boss von MGM, und damit einer der mächtigsten Filmmogule seiner Zeit die AMPAS 1926/27 ins Leben rief, war sein erklärtes Ziel, damit die Gründung von Gewerkschaften in der Branche zu verhindern, wobei er auf die Eitelkeit der Filmschaffenden spekulierte, die sich geschmeichelt fühlen würden, einem solch elitären Club anzugehören. Die Academy Awards, welche erstmals 1929 verliehen wurden, dienten einem ähnlichen Zweck. Mayers zynischer Kommentar dazu: "I found that the best way to handle [filmmakers] was to hang medals all over them. […] If I got them cups and awards they’d kill themselves to produce what I wanted." Sein primäres Ziel erreichte Mayer zwar nicht, denn unter den Verhältnissen der Großen Depression kam es in den 30er Jahren auch in Hollywood zu einer deutlichen politischen Radikalisierung und der Bildung von Gewerkschaften, aber die AMPAS erwies sich auch später immer wieder als ein Hort von Opportunismus und Konformismus Während der antikommunistischen Hexenjagd der McCarthy-Ära, als die amerikanische Filmindustrie von allen linken Elementen "gesäubert" wurde, rührte sie keinen Finger, um die verfolgten Regisseure, Schauspieler und Drehbuchautoren zu verteidigen. Sie erließ schließlich sogar "a bylaw that prohibited Oscar nominations for anyone who invoked their Fifth Amendment rights in their testimony before HUAC [House Un-American Activities Committee]." Wen wundert's, dass die AMPAS über die Jahrzehnte auch in künstlerischer Hinsicht immer wieder die Rolle einer Lobsängerin der Mittelmäßigkeit gespielt hat? Muss ich daran erinnern, dass die mit den meisten Oscars überschütteten Filme in der Geschichte des Academy Award William Wylers Ben Hur (1959), James Camerons Titanic (1997) und Peter Jacksons Return of the King (2003) sind? Oder dass solche Meister der amerikanischen Filmkunst wie Robert Altman, Charlie Chaplin, Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Stanley Kubrick, Fritz Lang, Anthony Mann, Michael Powell, Otto Preminger, Douglas Sirk, Josef von Sternberg, Raoul Walsh und Orson Welles nie auch nur einen einzigen  Regie-Oscar gewonnen haben?

Die altlinke Verdammung von Hollywood als dem Babel der Kulturindustrie, der Fabrik der Lügen war ohne Zweifel einseitig, oberflächlich und nicht selten von einem unangenehmen kulturellen Snobismus und einer quasi-puritanischen Feindschaft gegen Spaß und Unterhaltung geprägt. Doch vieles von dem, was im heutigen Zeitgeist als "radikale" oder "progressive" Kritik gilt, scheint mir in das andere Extrem zu verfallen. Wenn man die Academy nicht deswegen attackiert, weil sie so etwas wie die institutionelle Verkörperung des konformistischen Geistes von Hollywood ist, sondern ausschließlich deshalb, weil man ihre Mitgliederschaft für zu "weiß-männlich" und darüberhinaus für "überaltert" hält, dann legt das nahe, dass man am allgemeinen Zustand des amerikanischen Kinos nichts grundsätzlich auszusetzen hat.
Der folgende Tweet einer engagierten Filmfreundin, über den ich vor einiger Zeit gestolpert bin, scheint mir das Problem sehr prägnant zusammenzufassen: "It's easy to say the Oscars are irrelevant when your gender/ethnicity are always well represented." Die Frage, die ich mir dabei stelle, ist: Was genau ist hier mit "well represented" gemeint? Habe ich diese Aussage bloß quantitativ oder auch qualitativ zu verstehen? Ist ersteres gemeint, so lässt sich das schwerlich leugnen. Weiße Männer sind im amerikanischen Film immer noch überproportional gut vertreten. Ist jedoch letzteres der Fall, so kann ich mich dieser Einschätzung ganz und gar nicht anschließen. Was die allermeisten heutigen amerikanischen Filme angeht, denke ich, dass fast niemand besonders gut von ihnen "repräsentiert" wird.

Die Schaffung eskapistischer Gegenwelten und die Idealisierung und Romantisierung der Wirklichkeit war natürlich immer ein Teil von Hollywood. Der Begriff "Traumfabrik" ist schließlich nicht ohne Grund geprägt worden. Doch der Abgrund, der zwischen dem amerikanischen Kino und der sozialen Realität klafft, war vielleicht noch nie so tief wie heute. Die Lebenswirklichkeit der überwältigenden Mehrheit der US-Bevölkerung – gleich welchen Geschlechts und welcher Hautfarbe – findet so gut wie keine Widerspiegelung im Film. Kaum ein Drehbuchautor oder Regisseur scheint daran interessiert zu sein, sich eingehender und ernsthafter mit der Welt und den Menschen, die in ihr leben, auseinanderzusetzen. 
Wir brauchen bloß einen Blick auf die Liste der Oscar-Nominierten zu werfen.
Sicher, man hat schon schlimmeres gesehen. Wenigstens finden sich unter den Kandidaten diesmal keine solch abstoßenden Monstrositäten wie Clint Eastwoods American Sniper (2014), Martin Scorseses The Wolf of Wall Street (2013) oder Kathryn Bigelows Zero Dark Thirty (2012). Und zumindest einige der nominierten Filme verdienen durchaus kritische Anerkennung und Wertschätzung. Doch wenn man sich die Liste vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit betrachtet, dann wird sehr schnell deutlich, dass das amerikanische Kino trotz vereinzelter Lichtblicke im Großen und Ganzen immer noch in seiner selbstzufriedenen Isolation verharrt.

Die Krise der US-Gesellschaft nimmt von Jahr zu Jahr immer schärfere Formen an. Die Geschwindigkeit, in der die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben stattfindet, hat während der Präsidentschaft von Barack Obama noch einmal deutlich zugenommen. Die soziale Polarisation hat Ausmaße erreicht, wie sie das letzte Mal vor einem knappen Jahrhundert bestanden. Während eine winzig kleine Schicht an der Spitze immer obszönere Bereicherungsorgien feiert, versinken immer größere Teile der Bevölkerung in Armut und Elend. Die Börse boomt, die reale Wirtschaft stagniert. Einst blühende Städte wie Detroit, Flint oder San Bernardino haben sich in halbe Zivilisationsruinen verwandelt. Die Mittelklasse, über Jahrzehnte der Garant für "politische Stabilität", schmilzt zusehends zusammen. 
Seit bald fünfzehn Jahren befinden sich die USA in einem Zustand des permanten Krieges, und die Aggressivität des amerikanischen Imperialismus hat nicht nachgelassen. Washington stürzt sich in immer neue neokoloniale Abenteuer und verwüstet dabei ganze Länder, derweil die Gefahr einer offenen Konfrontation zwischen Amerika und seinen internationalen Rivalen China und Russland ständig wächst und die Menschheit in das Inferno eines dritten Weltkriegs zu stürzen droht. 
Nicht weniger arrogant und rücksichtlos geht die herrschende Elite gegen die eigene Bevölkerung vor. Die wachsende Brutalität der immer stärker militarisierten Polizei ist bloß ein Symptom für den schleichenden Übergang zu offen autoritären Herrschaftsformen.
Bei vielen Menschen führt die fortschreitende Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft im Moment noch in erster Linie zu wachsender Frustration und Verzweifelung, unartikulierter Wut und sozialer Entfremdung, die sich in Extremfällen bis zum Ausbruch zielloser, antisozialer Gewalt steigern kann. Doch lassen sich auch erste Anzeichen für den erwachenden Widerstand der arbeitenden Bevölkerung ausmachen. Die Massenproteste gegen Polizeigewalt im letzten Jahr sind dafür nur ein Beispiel.
Auf seine Weise drückt der momentan tobende Vorwahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur den fortgeschrittenen Zustand der Krise recht gut aus. Auf der einen Seite erleben wir mit Donald Trump die Herausbildung einer mehr und mehr offen faschistoiden Fraktion in der herrschenden Elite. Auf der anderen Seite spiegelt der von niemandem vorausgeahnte Erfolg von Bernie Sanders, der sich als "demokratischer Sozialist" und Gegner der Wall Street - Oligarchie geriert, in verzerrter Form die wachsende Radikalisierung ganzer Bevölkerungsschichten wider.

Wenig bis nichts von alldem scheint – in welcher Form auch immer seinen Widerhall in den nominierten Filmen gefunden zu haben, wenn man von The Big Short einmal absieht. {Was selbigen natürlich nicht automatisch zum besten Streifen auf der Liste macht.} Und an diesem Bild würde sich auch nichts ändern, wenn man Beast Of No Nation, Creed und Straight Outta Compton hinzunähme. 
Letzterer enthält zwar einige ziemlich eindringliche Szenen von Polizeigewalt, läuft letztenendes aber auf eine gänzlich konformistische "Erfolgsgeschichte" hinaus, wobei einer kritischen Auseinandersetzung mit dem äußerst widersprüchlichen Phänomen des Gangsta-Rap bewusst aus dem Weg gegangen wird. Wie sich Drehbuchautor Jonathan Herman ausgedrückt hat: "It’s an American Dream story … I guess I just like those stories. Because all these years later we’re still figuring out what … it means to be American."  Damit ähnelt der Streifen in gewisser Hinsicht David O. Russells Joy, dessen Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence für den Oscar nominiert wurde. Auch dieser erzählt eine typische "rags-to-riches" - Story. Aus gutem Grund hat Eric Kohn Joy in seiner Rezension für Indiewire völlig unironisch als "a sunny ode to capitalism" beschrieben. Dass beide Filme dazu einladen, sie als "Erfolgsgeschichten" im Geiste der Identitätspolitik zu lesen (Schwarze Musiker / Eine Frau überwinden alle Hindernisse und gelangen zu Ruhm und Reichtum), scheint mir im gegebenen Zusammenhang nicht ohne Bedeutung zu sein.
Und dabei ist David O. Russell wahrhaftig keiner der schlechtesten amerikanischen Regisseure unserer Zeit. Er besitzt ein gutes Auge für bestimmte Aspekte der US-Gesellschaft und zudem die Fähigkeit, wirklich lebendig wirkende Charaktere zu erschaffen. Filme wie I Heart Huckabees (2004) und The Fighter (2010) legen beredtes Zeugnis von seinem Talent, seinem Einfühlungsvermögen und seiner Humanität ab. Dass sich ein Künstler wie er, der ganz offensichtlich ehrliche Sympathie für die "einfachen Leute" empfindet, dennoch in der alten Lügenmär vom "American Dream" verheddern konnte, kann als Hinweis auf einen der Gründe für die aktuelle Krise des amerikanischen Films dienen.
Den meisten heutigen Filmemachern fehlt die nötige kritische Distanz zur existierenden Gesellschaftsordnung, um sie anders als auf rein impressionistische Weise zu erfassen. Im besten Fall gelingt es ihnen, einzelne ihrer Facetten treffend darzustellen, doch wenn es um Verallgemeinerungen, um das größere Bild geht, scheitern sie meist fürchterlich und tendieren dazu, einfach auf die Ideen oder Vorurteile zurückzugreifen, die in unserer Kultur gerade am weitesten verbreitet sind. Erschwerend hinzu kommt, dass den meisten jede historische Perspektive zu fehlen scheint. Sie versuchen nicht, die gesellschaftliche Wirklichkeit aus ihrer historischen Entwicklung heraus zu begreifen, sondern betrachten den Teilbereich dieser Realität, welchem sie ihre Aufmerksamkeit widmen, entweder losgelöst aus dem geschichtlichen Gesamtzusammenhang, oder – was noch sehr viel verheerender ist – sie sehen in ihm ein Produkt irgendwelcher übergeschichtlichen Faktoren, einen Ausdruck der "menschlichen Natur" oder ähnlicher Hirngespinste.

Die völlig berechtigte Forderung nach größerer Diversität wird nur dann wirklich zu positiven Veränderungen im amerikanischen Film beitragen können, wenn man sie mit einer allgemeineren und tiefergehenderen Kritik am aktuellen Zustand des Hollywood-Kinos verbindet. Und in der Kontroverse um die "All-White Oscars" scheint gerade dies für gewöhnlich nicht zu geschehen.

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