"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Mittwoch, 6. Mai 2015

Die bleibende Herausforderung des Orson Welles




Orson Welles, dessen einhundertsten Geburtstag wir heute feiern können, ist ohne Zweifel einer der großen Titanen der internationalen Filmkunst. In meinem persönlichen Pantheon der Regisseure besitzt er einen festen Platz im allerhöchsten Rang – sozusagen im cineastischen Empyreum. Und anders als etwa Robert Altman, Abbas Kiarostami oder Jafar Panahi, die ich in erster Linie für einen zeitlich klar abgrenzbaren Teil ihres Oeuvres verehre {die 70er; die 90er; die 90er und frühen 2000er), gehört meine Bewunderung bei ihm dem gesamten Werk sowie der mächtigen, leidenschaftlichen, genialen Künstlerpersönlichkeit, die sich in ihm ausdrückt.

Mich wirklich eingehend mit Orson Welles oder auch nur einem einzigen seiner Filme auf diesem Blog auseinanderzusetzen, dazu fehlt mir nicht nur die Zeit und Kraft, sondern vor allem auch der nötige Mut. Und so werde ich mich auf einen einzigen Punkt beschränken, der mir allerdings sehr wichtig erscheint.

Anlässlich seines Geburtstages werden heute vermutlich unzählige Artikel erscheinen, die Welles in glühenden Worten als einen großen Künstler und als eine der bedeutendsten Figuren in der Geschichte des Kinos feiern. Doch schaut man auf die letzten Jahrzehnte zurück, so zeigt sich sehr schnell, dass große Teile der offiziellen Intelligenzija in Amerika wie in Europa ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zu dem Filmemacher haben. 

Sein unbezweifelbares Genie wird zwar nie geleugnet und Citizen Kane gilt bei vielen immer noch als "der beste Film aller Zeiten", was freilich oft mehr wie die Wiederholung einer durch die Tradition geheiligten Formel und weniger wie ein Ausdruck ehrlicher persönlicher Wertschätzung wirkt. Doch zur gleichen Zeit wird von vielen immer wieder ein leicht verächtliches und ziemlich negatives Bild von Welles gezeichnet: Er sei ein rücksichtloser und größenwahnsinniger Egoist gewesen, stets bereit, alles und jeden seinem eigenen Ehrgeiz zu opfern, nur um durch seine blinde Selbstverliebtheit schließlich die eigene Karrier zu zerstören und als gescheiterter Künstler mit einer Unzahl unvollendeter Projekte zu enden.
Dieses Bild findet sich mehr oder weniger deutlich in Benjamin Ross' RKO 281 (1999), Tim Robbins' The Cradle Will Rock (2000) und Richard Linklaters Me and Orson Welles (2010). Filmhistoriker und Welles-Experte Joseph McBride führt in einem Interview aus dem Jahr 2009 weitere Beispiele an:
The actor Vincent D’Onofrio made a little film [Five Minutes, Mr. Welles (2005)] in which he also stars as Welles working on The Third Man, and again he plays him as an egomaniac. At the Locarno film festival a few years ago, I saw another short film that had Welles as a Faust figure being tempted by Mephistopheles, represented by the African-American actor Jack Carter, who played the lead in his “Negro Macbeth.” Welles makes a deal where he sells his soul for success, winds up damned and all that. It was ridiculous. I said to the filmmaker: why did you feel the need to claim that Welles sold his soul to the devil? He couldn’t answer, so I think he just picked up what’s in the air about Welles without thinking.
Einer gelungenen Einschätzung von Person und Bedeutung des großen Filmemachers am nächsten kommt vielleicht noch Tim Burton mit jener kurzen Szene in Ed Wood (1994), wenn sich der "mieseste Regisseur aller Zeiten" und der Schöpfer des "besten Films aller Zeiten" zufällig in einer Kneipe begegnen: Zwei Künstler, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und die doch eines verbindet – der ungebrochene Wille gegen alle Widerstände ihre eigenen Visionen zu realisieren.

Warum Welles in den Köpfen so vieler Künstler und Intelektueller unserer Zeit offenbar zu einer Karrikatur seiner selbst geworden ist, hat sicher eine Reihe von Gründen. Die nachwievor sehr stark von allgemeinem Pessismus und Zynismus geprägte Atmosphäre, die es nahelegt, sich stets auf die Schwächen und nicht auf die Stärken großer Persönlichkeiten der Vergangenheit zu konzentrieren. Die mit der ungebrochenen Vorherrschaft von Identitätspolitik und "Political Correctness" einhergehende Fixierung auf das "Persönliche", das als die eigentliche Sphäre des "Politischen" verstanden wird, unter gleichzeitiger Ausblendung des weiteren gesellschaftlichen Kontextes. Der erschreckende Mangel an historischem Verständnis in weiten Teilen der Intelligenzija usw. 
Doch der wichtigste Grund scheint mir anderswo zu liegen: Welles muss in mancherlei Hinsicht fremd und unverständlich auf den Großteil der heutigen Filmemacher und Intellektuellen wirken. Kritiker David Walsh hat einmal über ihn geschrieben:
No one in cinema besides Welles continued to work over in such a serious manner the themes of personal and social morality and corruption and the temptations of power and greatness as they played themselves out under the specific conditions of the 1950s and 1960s (in Macbeth, Othello, Touch of Evil, Mr. Arkadin, The Trial and Chimes at Midnight). There is something heroic about Welles's efforts in a time of reaction and conformism to persevere in making critical and personal films.
Wo ließe sich in der heutigen Filmwelt eine vergleichbare künstlerische Integrität finden? Wer von den heutigen Regisseuren & Regisseurinnen wäre bereit, auf ähnliche Weise seine Karriere in Hollywood dem Verfolgen der eigenen filmerischen Visionen zu opfern? Und vielleicht noch wichtiger: Wer im heutigen Mainstream- oder Indie-Kino verfügt über Visionen, die ein solches Opfer rechtfertigen würden?

Verantwortlich für diese Situation sind weniger die individuellen Künstler & Künstlerinnen, als vielmehr die allgemeinen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Orson Welles war ohne Zweifel mit einem immensen Talent gesegnet und verfügte über eine sehr starke und eigenwillige Persönlichkeit, doch fand er zumindest am Anfang seiner Karriere außerdem eine gesellschaftliche Atmosphäre vor, die seiner künstlerischen Entwicklung äußerst zuträglich war. 
Seine Arbeiten am Theater – der "schwarze" Macbeth (1935), die Inszenierung von Marc Blitzsteins "proletarischem" Musical The Cradle Will Rock (1937), der im faschistischen Italien angesiedelte Julius Caesar (1937) – waren Teil einer allgemeineren künstlerischen und politischen Radikalisierung. Welles bewegte sich zu dieser Zeit in Kreisen, die sehr stark von sozialistischen und revolutionären Ideen beeinflusst waren. Und auch wenn er selbst nie einer politischen Partei beitrat und für Agitprop und "didaktische" Kunst nur wenig übrig hatte, teilte er doch viele der Überzeugungen seiner Freunde und Kollegen. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich sein furioses Filmdebüt Citizen Kane wirklich verstehen. 
Im April 1941 legte das FBI eine Akte über Welles an, die bis 1956 auf über 200 Seiten anwachsen sollte. Sein Name gelangte auch auf den berüchtigten "Security Index" – die Liste "subversiver Elemente", welche nach dem Willen von FBI-Boss J. Edgar Hoover im Falle einer "nationalen Krise" in Internierungslager wandern sollten. Joseph McBride hat überzeugend dargelegt, dass Welles während der McCarthy-Ära auf die Schwarzen Listen gelangte und seine Übersiedelung nach Europa 1947 vermutlich in diesem Kontext gesehen werden muss.
Was Welles von den meisten im Zuge der Großen Depression radikalisierten Künstlern und Intellektuellen unterschied, war, dass er auch nach dem brutalen reaktionären Umschwung der späten 40er und 50er Jahre zu keinerlei Kompromissen bereit war. Unbeirrt setzte er fort, was er in den 30er Jahren begonnen hatte.

Orson Welles' angebliche Egomanie verdient noch aus einem anderem Grund eine etwas differenziertere Betrachtung als heute sehr oft üblich. Andrew Sarris schreibt in seinem klassischen Buch The American Cinema
The Wellesian persona looms large in Wellesian cinema. Apart from The Magnificient Ambersons, in which his presence was exclusively vocal narration, every Welles film is designed around the massive presence of the artist as autobiographer. Call him Hearst or Falstaff, Macbeth or Othello, Quinlan or Arkadin, he is always at least partly himself, ironic, bombastic, pathetic, and, above all, presumptuous. [...]*
Als direkte Antwort auf diese Passage finden wir in David Walshs äußerst lesenswertem Essay Touch of Evil: That Ticking Noise in Our Heads folgende Überlegungen:
These points are no doubt true, but I think they miss something essential. [...]  
Welles, it seems to me, brings out both the necessity of corruption, its inevitability given the nature of contemporary society, and at the same time, its non-necessity. [...] He is fascinated above all by the human personality and its almost infinite capacities. His concern with his own personality, although not untouched by self-aggrandizement, is of a relatively objective character. He studies himself, his responses to people and events, his progress, even his own degeneration, as a scientist-artist-autobiographer, and presents his results in the form of the characters he creates.   
I think Welles, like an Oscar Wilde, was not so much enamored of his own powers, as he was deeply concerned by the problem of engendering such powers in others, so that the general public could "make itself artistic." There is a deeply democratic streak in his work. He believed that everyone could feel what he felt, see what he saw. [...] 
I think Welles was deeply disturbed and intrigued by the degree to which breadth of personality tends to be bound up in the present social order with corruption and moral depravity. So many of his works seem to involve a tragic acceptance that one can't be grand and ambitious in this world without doing evil.
"The less you are, the more you have; the less you express your own life, the greater is your alienated life – the greater is the store of your estranged being." This is Marx on Welles's characters, or it might as well have been. For all of his protagonists – Kane, Arkadin, Quinlan – the piling up of success or power at one pole inevitably involves a psychic and sexual shriveling up at the other. 
Welles is not moralizing. It's the human cost, the waste that drives him crazy. It's the disproportion between the capacities of his heroes and the pettiness of their actual pursuits and accomplishments – accumulating money, power, fame – that wounds him to the quick.
Blicken wir am heutigen Tag zurück auf Orson Welles und sein Werk, so zeigt uns dies zugleich wie miserabel es um das Kino heutzutage bestellt ist, als auch welch großartiges Potential in dieser Kunstform steckt. Welles schuf den Großteil seines Werkes unter den Bedingungen einer von Reaktion und Konformismus geprägten Zeit. – Welch großartige Früchte wird die Filmkunst erst hervorbringen, wenn sie sich endlich in einem ihr günstigen Klima entfalten darf!


* Andrew Sarris: The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 78ff.

4 Kommentare:

  1. "Wo ließe sich in der heutigen Filmwelt eine vergleichbare künstlerische Integrität finden?"

    Nicht ganz heutig, weil ebenfalls ein toter Jubilar: Fassbinder - ich mag seine Filme zwar nicht, aber diese Wucht und Schwere und Pfeif-drauf-Haltung hatte er definitiv auch.

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  2. Da wirst du keinen Widerspruch von mir zu hören bekommen. :-)

    Fassbinder nimmt eine ähnlich hohe Stellung in meinem Pantheon ein. "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" und "Mutter Küsters Fahrt zum Himmel" gehören zu meinen absoluten Lieblingsfilmen.

    Wenn ich von der "heutigen Filmwelt" spreche, dann meine ich ungefähr die letzten zweieinhalb Jahrzehnte.

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  3. Die letzten 25 Jahre? Ja, da wird es eng.

    Die Coen-Brüder?

    Sie sind allerdings nicht wuchtig-schwer, sondern leicht und locker

    - was für mich aber kein Nachteil ist; ich schätze von Welles' Zeitgenossen auch Billy Wilder sehr.

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  4. Vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt:
    Ich bin schon der Meinung, dass auch im heutigen Hollywood einige wirklich talentierte und interessante Filmemacher arbeiten. Die Coen-Brüder gehören ohne Frage zu dieser Gruppe, auch wenn ich ihr Gesamtwerk für ziemlich durchwachsen halte. Mit den besten Vertretern der Goldenen Ära von Hollywood können sie sich in meinen Augen allerdings nicht messen.

    Vielleicht sollte ich irgendwann mal versuchen, meine Sicht der Entwicklung des amerikanischen Films in den letzten Jahrzehnten und der Gründe für diese Entwicklung etwas ausführlicher darzulegen ...

    Oh ja, Billy Wilder ist ziemlich klasse. :-)
    Bei allen Problemen und Hindernissen, mit denen sich Hollywoods Regisseure in den 40er und 50er Jahren konfrontiert sahen, gab es da immer noch eine beeindruckende Phalanx von Künstlern, die wirklich großartiges hervorgebracht haben. John Ford, Howard Hawks, John Huston, Otto Preminger, Alfred Hitchcock, Robert Aldrich, Anthony Mann, Douglas Sirk ... Um nur einige zu nennen ...

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