"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Mittwoch, 13. August 2014

Gedanken über den Russischen Symbolismus (I)

Wenn von den Wurzeln der Fantasy die Rede ist, so bleibt der Blick dabei in den meisten Fällen auf zwei Entwicklungsstränge innerhalb der angloamerikanischen Literatur beschränkt. Eine Linie verläuft dabei von den englischen Romantikern über ihre viktorianischen Nachfolger William Morris & George MacDonald zu Tolkien, die andere von den Abenteuergeschichten der frühen Pulps über Edgar Rice Burroughs & Harold Lamb zu Robert E. Howard. Bestenfalls werden dann noch die Namen solcher "Exoten" wie Lord Dunsany, David Lindsay und Eric Rücker Eddison eingestreut. Ganz unberechtigt ist eine solch eingeschränkte Sichtweise natürlich nicht, vorausgesetzt man versteht unter "Fantasy" ausschließlich die von Tolkien und Howard geprägten Subgenres der High Fantasy und der Sword & Sorcery. Doch eigentlich war die Fantasy schon immer sehr viel vielgestaltiger und heute dürfte es eigentlich niemandem, der sich ein bisschen eingehender mit dem Genre beschäftigt hat, noch möglich sein, selbiges auf diese beiden Spielarten {+ Urban Fantasy} zu reduzieren. 
Eine neuerliche Beschäftigung mit den Traditionen der phantastischen Kunst, abseits der ausgetretenen Pfade, scheint mir deshalb mehr denn je wünschenswert. Ein Bereich, der mir persönlich dabei besonders am Herzen liegt, ist die Décadence und der Symbolismus des Fin de Siècle. Zugegeben führt von dort kein direkter Weg zur modernen Fantasy, wenn man das Werk Clark Ashton Smiths einmal außen vor lässt. {Was man nicht tun sollte!} Dennoch existiert eine Verbindung zwischen der Décadence und Teilbereichen der Fantasy. Um Jeff VanderMeer zu zitieren: "I would say that the surreal and decadent have permeated the work of many contemporary authors, including such amazing writers as M. John Harrison and Rikki Ducornet. The work of China Miéville is clearly influenced by the surrealists and the decadents. [...] Harrison shamelessly (to his credit) stole from the Decadents for his Viriconium cycle. I would have done the same for my Ambergris cycle if I hadn’t come to the Decadents late in the game." (1) Unbedingt genannt werden muss in diesem Zusammenhang auch K.J. Bishop und ihr großartiger Roman The Etched City.

Um das von vornherein klarzustellen: Der folgende Essay wird sich nicht mit der Beziehung zwischen Décadence und moderner Fantasy beschäftigen. Ursprünglich war er Teil eines sehr viel umfangreicheren Werkes, das mit Literatur nur am Rande etwas zu tun hatte. Wenn ich ihn hier dennoch veröffentliche, so als eine Art überlanges Vorwort zu einer geplanten Besprechung von Waleri Brjussows Roman Der feurige Engel – einem der großen, aber wohl weitgehend in Vergessenheit geratenen Klassiker der phantastischen Literatur des Fin de Siècle, der meiner Meinung nach eine kleine Wiederauferstehung verdient hätte.
Was ich in diesem Essay über den russischen Symbolismus zu sagen habe, ist wenig freundlich. Manches würde ich heute vielleicht etwas diplomatischer ausdrücken. Im Kern jedoch halte ich die hier gegebene Einschätzung immer noch für richtig. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich diese literarische Strömung für unbedeutend oder samt & sonders für "reaktionär" {was auch immer das im Zusammenhang mit Kunst bedeuten mag} halten würde. Spätestens wenn ich mich Brjussows Roman zuwenden werde, sollte sich das etwas deutlicher zeigen.   


Wie ich vor gut einem Jahr schon einmal in einem Blogpost über den Maler Nikolai Roerich dargelegt habe, herrschte in großen Teilen von Russlands Intelligenzija an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine starke Faszination für allerlei mystische Heilsllehren vom eher christlich geprägten "neuen religiösen Bewusstsein" Dimitri Mereschkowskis über das Rosenkreuzertum bis hin zur "indisch-asiatisch" angehauchten Theosophie von Madame Blavatsky {selbst Tochter eines russischen Generals}. Auch die allermeisten Vertreter und Vertreterinnen des Symbolismus im im Zarenreich waren der einen oder anderen Spielart des Mystizismus ergeben.

Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Inhalten der Theosophie oder des auf die "Sophiologie" Wladmir Solowjows zurückgehenden "neuen religiösen Bewusstseins" ist hier nicht der rechte Ort. Doch wenn man ein wenig in Madame Blavatskys Schriften herumblättert, wird man sehr schnell erkennen, dass für die theosophische Prophetin der philosophische Materialismus eine der hassenswertesten Inkarnationen des Bösen war. Der Kampf gegen ihn erschien ihr eine der wichtigsten Aufgaben der zum "spirituellen Leben" erwachten. Als sie im Jahre 1875 gemeinsam mit ihrem Freund Colonel Henry Steel Olcott in den USA die Theosophische Gesellschaft gründete, lautete der vierte Artikel ihres Gründungsprogramms: „To oppose materialism and theological dogmatism in every possible way, by demonstrating the existence of occult forces unknown to science, in nature, and the presence of psychic and spiritual powers in man".(2)
Der Kampf gegen die materialistische Philosophie zieht sich wie ein roter Faden durch das theosophische Schrifttum. Für die Verfechterin einer religiösen Heilslehre mag dies selbstverständlich erscheinen, doch bedenkt man, dass die Mutter der Theosophie vor ihrer Übersiedelung in die Vereinigten Statten den Großteil der 60er Jahre in ihrer russischen Heimat verbracht hatte, so erhält ihr antimaterialistischer Kreuzzug noch eine zusätzliche Nuance. In Russland nämlich war dieses Jahrzehnt eine Epoche der Aufklärung – Trotzki nannte es einmal „unser kurzes 18. Jahrhundert" (3) – und der Materialismus – sowohl in seiner naturwissenschaftlichen als auch in der Feuerbach’schen Form – bildete die Ideologie der Rasnotschinzen; jener jungen, deklassierten Intellektuellen, die sich daranmachten, gegen den Zarismus und die alte, auf der Basis der Leibeigenschaft erwachsene Gesellschaftsordnung zu rebellieren. Der neue Typus des atheistischen "Nihilisten" war geboren und  fand seine literarische Wiederspiegelung in Figuren wie dem jungen Mediziner Basarow in Turgenjews Väter und Söhne oder in Wera Pawlowna und den Studenten Lopuchow, Kirsanow und Rachmetow in Tschernyschewskis Was tun?. Die Wortführer der Rasnotschinzen, Russlands Aufklärer, die großen Publizisten und Literaturkritiker Tschernyschewski, Dobroljubow und Pissarew, waren allesamt Schüler Ludwig Feuerbachs. Ist es arg abwegig, Madame Blavatskys obsessiven Hass auf die materialistische Philosophie, die sie wie alle konservativen Denker mit Vulgarität und Egoismus gleichsetzte, vor diesem Hintergrund zu betrachten? 
Um so mysteriöser muss es dann allerdings erscheinen, dass die Nachkommen jener "neuen Menschen" der 60er Jahre sich vier Jahrzehnte später in Scharen der theosophischen Geheimlehre, dem Rosenkreuzertum, dem esoterischen Ordre Martiniste oder dem "neuen religiösen Bewusstsein" zuwandten. Zur Lösung dieses Rätsels müssen wir einen etwas .längeren Ausflug in die Entwicklungsgeschichte der russischen Intelligenzija unternehmen.

Der Rasnotschinze, der in den 50er/60er Jahren die Bühne der Geschichte betrat, war in gewisser Weise eine Frühgeburt. Hervorgegangen aus den neu gegründeten staatlichen Schulen fand er einen ihm gemäßen Platz weder im Staatsdienst noch in der russischen Wirtschaft, die noch viel zu unterentwickelt war, um eine so große Zahl von Kopfarbeitern in ihre Dienste nehmen zu können. Er stand außerhalb der sozialen Ordnung, war weder Bauer, noch Adeliger noch Kaufmann. Seine isolierte Stellung führte ihn dazu, die Theorie von der "kritisch denkenden Persönlichkeit" zu schaffen, derzufolge das aufgeklärte Individuum die entscheidende Rolle in der geschichtlichen Entwicklung spiele. Im Grunde war diese hochmütige Doktrin nur eine Kompensation für die eigene soziale Machtlosigkeit. Gleichzeitig brachte die Isolation den Intellektuellen dazu, sich selbst im Gegensatz zur herrschenden Ordnung zu definieren und sich zum Fürsprecher und Vorkämpfer des "Volkes" zu erklären, um auf diese Weise einen Platz im Leben und eine feste Grundlage für seine eigene Persönlichkeit zu finden. 
In den 70er Jahren zogen die jungen Idealisten die praktischen Konsequenzen aus ihren Überlegungen. Sie gingen scharenweise "ins Volk", um es aufzurütteln und dem großen Aufstand gegen den Absolutismus den Boden zu bereiten. Doch wer genau war dieses "Volk", dem die Rasnotschinzen dienen und das sie zugleich anführen wollten? Aufgrund der Rückständigkeit Russlands konnte es sich dabei nur um die große Masse der Bauernschaft handeln. Ein „Pugatschow mit Hochschulbildung"  (4) was der französische Royalist Joseph de Maistre einst als Schreckgespenst an die Wand gemalt hatte, war in gewisser Weise der Wunschtraum der Rasnotschinzen. 
Doch wie die Geschichte immer wieder bewiesen hat, ist der Bauer nur unter der Führung einer städtischen Klasse dazu in der Lage, eine revolutionäre Rolle zu spielen. Und so erlebten die jungen Propagandisten der Bewegung Semlja i Wolja ("Land und Freiheit") eine herbe Enttäuschung. Das Dorf wollte nicht auf ihren Ruf hören. Vielmehr begegnete der Muschik dem städtischen Rasnotschinzen in den meisten Fällen mit unverhohlenem Mißtrauen und stummer Feindseligkeit. Nikolai A. Nekrassow, der führende Dichter der radikalen Intelligenz, schrieb kurz vor seinem Tod im Jahre 1877:
Mich wird nun bald der Rasen decken.
Das Sterben fällt mir schwer, der Tod wird schön;
Und so will ich in niemand Trauer wecken,
Es wird kein Mensch um mich in Trauer gehen.
Ein Lied  des Adels hier in unsern Landen
Aus meiner Leier Saiten nie Gestalt gewann;
Nun sterbe ich genauso unverstanden
Von meinem Volk, wie da ich einst begann. (5)
Die mutigsten und selbstlosesten Vertreter der Intelligenzija wandten sich daraufhin dem Terrorismus zu. Mit Dynamit und Revolver stellte sich die Partei Narodnaja Wolja ("Volkswille/Volksfreiheit") dem Zarismus zum Zweikampf. Mit der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881 erreichte der Kampf der Narodowolzen zugleich seinen Höhepunkt und sein Ende. Dem Tod des Selbstherrschers folgte nicht die ersehnte Revolution. Der Weg des individuellen Terrors hatte sich als blutige Sackgasse erwiesen. Es begann ein Jahrzehnt der bleiernen Reaktion unter der Regierung Alexanders III.

Unter den Intellektuellen machte sich Verzweifelung breit, viele wandten sich von ihren alten Idealen ab und das Renegatentum trieb immer hässlichere Blüten. 1888 veröffentlichte Lew Tichomirow der geistige Führer der Narodnaja Wolja im Exil sein berüchtigtes Pamphlet Warum ich aufgehört habe, Revolutionär zu sein. Der berühmte Satiriker Saltykow-Schtschedrin schrieb voller Verbitterung: „Das Leben wird langweilig und schwer ... der Mensch fühlt sich wie in einer Folterkammer, in der er überdies eins über den Schädel bekommen hat." (6) Anton Tschechow hat das damals so weitverbreitete Gefühl erschöpfter Resignation auf sehr einfühlsame Weise in seiner 1889 entstandenen Langweiligen Geschichte beschrieben.
Erstmals drangen nun auch religiöse Ideen in den Kreis der ehemaligen "Nihilisten" ein, und Leo Tolstois quietistische Predigten von der moralischen Selbstvervollkommnung und dem "Nicht-Widerstehen dem Übel" fanden zunehmend Gehör. Afanassi Fet, der letzte große Dichter des Adels, der in seiner impressionistischen Lyrik noch einmal das ungebrochene Naturempfinden der Feudalzeit heraufbeschwor, fand nach Jahrzehnten des Schweigens seine poetische Stimme wieder und übersetzte daneben Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung ins Russische. Auch Solowjows Sophiologie entwickelte sich vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund.

Die politische und weltanschauliche Fahnenflucht vieler Intellektueller war jedoch nicht allein eine Reaktion auf das Scheitern der Narodnaja Wolja und auf die harte Hand Alexanders III. Vielmehr erlebte der russische Kapitalismus in den 80er Jahren geschützt von einem System extrem hoher Einfuhrzölle  einen mächtigen Aufschwung, der im darauffolgenden Jahrzehnt als Fürst Sergej Witte Finanzminister wurde geradezu schwindelerregende Dimensionen annahm. In den Worten von Rosa Luxemburg: „Die ‘primitive Akkumulation’ des Kapitals gedieh in Rußland unter der Begünstigung allerlei staatlicher Subsidien, Garantien, Prämien und Staatsbestellungen herrlich und erntete Profite, die im Westen um jene Zeit bereits ins Reich der Fabel gehörten." (7) Große Mengen ausländischen Kapitals strömten ins Land. Parallel dazu vollzog sich eine zunehmende Verbürgerlichung der mittleren Intelligenz. Der Rasnotschinze war nicht länger der ungeliebte Sohn, der außerhalb der gottgegebenen Ordnung stand. Als Arzt, Rechtsanwalt, kleiner Beamter, Ingenieur, Fabrikverwalter oder Bürovorsteher fand er seinen Platz in der Gesellschaft und konnte sich schon bald eines wenn auch meist noch recht bescheidenen Wohlstands erfreuen. Man wurde "solide", und in dem neuen Milieu verwandelte sich die "kritisch denkende Persönlichkeit", die gestern noch die Welt aus den Angeln hatte heben wollen, allmählich in ein sattes selbstzufriedenes "Bildungsbürgertum", das von der Höhe seiner Kultur halb mitleidig, halb verachtungsvoll auf die "schmutzige Masse" herabblickte.

Freilich folgten nicht alle dem Lockruf der Bequemlichkeit. Bereits in den 80er Jahren waren in den industriellen Zentren des Landes erste große Streiks ausgebrochen, und die 90er Jahre erlebten ein immer stärkeres Anwachsen der Arbeiterbewegung. Um die Mitte des Jahrzehnts begann sich eine neue Generation junger Intellektueller der Revolution zuzuwenden, wobei an die Stelle des alten Narodnikitums mehr und mehr der Marxismus trat. 1895 gründete Lenin in St. Petersburg den "Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse", 1898 trafen sich Vertreter mehrer sozialistischer Gruppen in Minsk zum Ersten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands. Diese neue sozialistische Intelligenzija bestand nicht mehr aus isolierten Vollstreckern des Volkswillens, sie wurde Teil einer wirklichen Massenbewegung. Dennoch führten die marxistischen "Berufsrevolutionäre" die besten Traditionen der "Nihilisten" der 70er Jahre fort, wie es Max Eastman in einer Passage seiner 1925 erschienen Biographie des jungen Trotzki so schön beschrieben hat:
A wonderful generation of men and women was born to fulfill this revolution in Russia. You may be traveling in any remote part of that country, and you will see some quiet, strong, exquisite face in your omnibus or your railroad car a middle-aged man with white, philosophic forehead and soft brown beard, or an elderly woman with sharply arching eyebrows and a stern motherliness about her mouth, or perhaps a middle-aged man, or a younger woman who is still sensuously beautiful, but carries herself as though she had walked up to a cannon you will inquire, and you will find out that they are the ‘old party workers.’ Reared in the tradition of the Terrorist movement, a stern and sublime heritage of martyr-faith, taught in infancy to love mankind, and to think without sentimentality, and to be masters of themselves, and to admit death into their company, they learned in youth a new thing to think practically; and they were tempered in the fires of jail and exile. They became almost a noble order, a selected stock of men and women who could be relied upon to be heroic, like a Knight of the Round Table or the Samurai, but with the patents of their nobility in the future, not the past. (8)
Doch daneben exististierte nunmehr auch eine Schicht typisch kleinbürgerlicher Intellektueller, deren Weltsicht in immer höherem Maße das kulturelle Leben Russlands prägte. Ihr Denken und Fühlen fand seinen vollendetsten Ausdruck  in der symbolistischen Dichtung, deren Geburt in die Mitte der 90er Jahre fällt.

Die Symbolisten wandten sich vor allem gegen die sozialkritische Linie in der russischen Literatur, deren extremster Vertreter Pissarew gewesen war, der die Kunst ganz dem sozialen Fortschritt hatte unterordnen wollen. Nekrassow hatte dem Dichter in den 50er Jahren zugerufen:
Sei Bürger! Weih dein Herz dem Schönen!
Des Bruders Wohl weih deine Hand
Und opfre Seele, Geist und Sehnen
Der Liebe, die die Welt umspannt. (9)

Demgegenüber proklamierten die Symbolisten nun die Prinzipien des l’art pour l’art. An die Stelle des alten Realismus setzten sie Traum und Vision, die "Magie des Wortes" und die "Musik der Sprache"

In ihrer Vergötterung der "reinen Kunst" kam neben anderem ganz ohne Zweifel das Verlangen zum Ausdruck, sich endlich vom lästigen Erbe der 60er und 70er Jahre zu befreien und die unbequeme Pflicht zum "Dienst am Volk" loszuwerden, die sich die Rasnotschinzen damals auferlegt hatten. Man wollte das eigene private Glück nicht länger "der Sache des Volkes" opfern.
In Maxim Gorkis Theaterstück Sommergäste einem scharfsinnigen Porträt der russischen Intelligenzija der Jahrhundertwende beschreibt der Ingenieur Suslow die seelische Verfassung dieser Schicht:
Wir haben uns in unserer Jugend genug erregt und genug gehungert; da ist es nur natürlich, wenn wir im reiferen Alter viel und schmackhaft essen und trinken und uns ausruhen wollen .. uns überhaupt für das unruhige, hungrige Leben in unserer Jugend im Übermaß belohnen wollen ... Ja, ja ... wir alle sind Kinder von Kleinbürgern, von armen Leuten ... Wir, sage ich, haben uns in unserer Jugend durchgehungert und erregt ... Wir wollen in unserem reiferen Alter essen und unsere Ruhe haben - das ist unsere ganze Psychologie. (10)
Die Uraufführung des Stückes im November 1904 wurde von tumultarischen Szenen begleitet. Die Vertreter der dem Symbolismus nahestehenden Zeitschrift Mir Iskusstva ("Welt der Kunst") verließen bereits vor dem Ende der Vorführung empört das Theater. Wie Gorki selbst bemerkte: „[I]ch habe getroffen, wohin ich gezielt habe." (11)
In den großen Werken der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts hatte man stets das rege Interesse des Schriftstellers am Leben seiner Mitmenschen, seine  Sympathie und sein Mitgefühl für die "Erniedrigten und Beleidigten" spüren können. Unabhängig von der politischen Einstellung der einzelnen Autoren waren sie allesamt Teil einer Rebellion gegen das verhasste "Reich der Finsternis" gewesen, gegen die durch Despotismus, Habgier, Ausbeutung und kulturelle Armut gekennzeichnete russische Wirklichkeit. Mit den Symbolisten vollzog sich eine Hinwendung zum eigenen Ich. Nicht zufällig erbrachten sie ihre bedeutendsten Leistungen auf dem Gebiet der Lyrik der subjektivsten und persönlichsten aller literarischen Gattungen.

Doch war dies nur die eine Seite des symbolistischen l’art pour l’art. Wie Georgi Plechanow sehr richtig in seinem Aufsatz Die Kunst und das gesellschaftlichen Leben bemerkte: „Die Neigung zur Kunst für die Kunst entsteht dort, wo ein Zwiespalt zwischen den Künstlern, und dem sie umgebenden gesellschaftlichen Milieu vorhanden ist." (12)

Als Afanassi Fet in den 50er und 60er Jahren die Grundsätze des l’art pour l’art vertreten hatte, so war dies Ausdruck für die unversöhnliche Feindschaft gewesen, die der erzkonservative, adelsstolze Dichter nicht nur gegenüber den ästhetischen Theorien Tschernyschwskis, Dobroljubows und Pissarews, sondern gegenüber der gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung Russlands empfand. In einem Zeitalter der Aufklärung musste sich ein Mensch wie er, der voller Überzeugung Artikel zur Verteidigung der Leibeigenschaft verfasste, fremd vorkommen. Fet verabscheute den liberalen Zeitgeist, der ihm der Feind alles Schönen und Wahren zu seien schien. Noch als alter Mann ließ er jedesmal das Fenster seiner Kutsche herab, wenn er an der Moskauer Universität vorbeifuhr, und bedachte das verhasste Institut mit lauten Schimpfworten. In seinem Denken und Fühlen war der Dichter noch vollständig in der Feudalzeit verwurzelt. Wie hätte er da seine Kunst in den Dienst einer Gesellschaft stellen können, die sich immer deutlicher in einer bürgerlichen Richtung entwickelte?
Anders verhielt es sich mit den Dichtern der russischen Décadence. Im Gegensatz zu Fet, dessen Welt der Gutshof gewesen war, handelte es sich bei ihnen eindeutig um Geschöpfe der Stadt. Keinerlei lebendige Adern verbanden sie mehr mit dem ländlichen Universum der Muschiks und Adeligen. Der Symbolismus war viemehr die erste wirklich bürgerliche Literatur Russlands. Sie war der erste Schritt hin zur Entfaltung des bürgerlichen Individuums. Doch bedeutete dies noch lange nicht, dass die Dichter deshalb auch die bürgerliche Gesellschaft bejaht hätten. Sie verabscheuten vielmehr ihre Kleingeistigkeit und Vulgarität und waren keineswegs bereit, ihr als Lobredner zu dienen oder ihre heuchlerische Moral in feingeschliffenen Versen zu besingen. Der britische Journalist Stephen Graham beschrieb 1912 den krassen Materialismus der aufsteigenden russischen Mittelklasse und der mit ihr verbundenen "neuen Intelligenzija" so: „The new intelligent is of this sort; he wants to know the price of everything. Of things which are independent of price he knows nothing, or if he knows of them he sneers at them and hates them. Talk to him of religion and show that you believe in the mystery of Christ; talk to him of life and show that you believe in love and happiness; talk of woman and show that you understand anything about her unsexually; talk to him of work and show that though you are poor you have little regard for money and [he] is uneasy." (13) Wie hätten sich sensible Menschen in diesem Umfeld wohl fühlen können?
Der russische Bourgeois war zwar nicht mehr der grobschlächtige, bärtige Kaufmann mit der Pelzmütze auf dem Kopf, doch das soziale Milieu, in dem sich die ehemaligen Rasnotschinzen bewegten, war dennoch viel zu muffig und spießbürgerlich, als daß ein feinfühliger Mensch sich in ihm hätte heimisch fühlen können. Die sensibelsten Teile der Intelligenz spürten schmerzhaft die Enge und Würdelosigkeit ihres Daseins und die symbolistische Dichtung war im Grunde ein einziger Aufschrei der Verzweifelung. Eines der eindringlichsten Beispiele hierfür ist sicher das Gedicht Die Spinnen von Sinaida Hippius: 
In dieser Welt bin ich, der engen Zelle,
Der engen Zelle mit dem niedern Dach.
In den vier Ecken hocken tödlich schnelle
Vier Spinnen, rastlos webend Tag und Nacht.

Gewieft sind sie und feist und speckig,
Und dauernd weben, weben, weben sie ...
Ihr immer gleiches Werk, es ist so schrecklich,
Denn ewig werkeln sie, erschlaffend nie. 

Sie haben die vier großen Spinnenweben
Mit Emsigkeit zum Riesennetz verknüpft.
Ich schau: Wie sich die Spinnenhintern regen,
Der Leib in düsterm Stank und Staub sich lüpft. 

Schon stecken meine Augen unterm Netze.
Das ist so leicht, weißgräulich und so weich.
Wie animalisch froh sie sich ergötzen, 
Die fetten Spinnen, alle vier sogleich!  (14)
Fet hatte eine Zuflucht vor der neuen Zeit in der Betrachtung der Natur gesucht, die in seinen Gedichten als eine außerhalb der Geschichte stehende, einzig den ewigen Gesetzen von Tod und Wiedergeburt unterworfene Realität erscheint. Dieser Weg stand den Symbolisten nicht mehr offen. Ihnen war das ungebrochene Naturempfinden des Dichteraristokraten, in dem noch der Geist der alten Agrargesellschaft fortlebte, fremd. Der Dichter Aleksandr Blok, selbst Spross eines alten Adelsgeschlechtes, schrieb 1906 in seinem Essay Zeitlosigkeit:
Ich sehe ein absonderliches Bild: eine grüne und blühende Welt, jedoch auf ihrer Flur bauchige Spinnen von Städten, welche die Vegetation ringsum ausdörren, Lärm, Schmutz und Gestank von sich geben ... Was aber tun? Was aber tun? Es gibt keinen häuslichen Herd mehr ... Die reinen Sitten, das ruhige Lächeln, die stillen Abende - alles ist durch das Spinnennetz verstopft ... Die Freude ist abgestanden, die Herde sind erloschen ... Die Türen stehen den windigen Platz offen ... Wir leben in einer Epoche der zum Platz hin aufgerissenen Türen, der entgluteten Herde ... (15)
Die traute und sichere Welt des gutsherrlichen Hofes und seiner Äcker und Waldungen existierte nicht mehr. Wie das lyrische Ich in Hippius’ Spinnen fühlten sich die meisten Dichter der russischen Décadence hilflos einer Wirklichkeit ausgesetzt, die ihnen die Luft zum Atmen zu nehmen schien. Ihr Protest klang daher oft kraftlos und verzweifelt.

Der Hass der Symbolisten auf den "Spießer" und ihre Neigung zum Epater le bourgeois ("den Bürger vor den Kopf stoßen") hatte nichts mit den revolutionären Zielen der alten Rasnotschinzen zu tun. Dennoch kam es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer zeitweiligen Annäherung an die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Doch dieses eigentümliche "Bündnis" war äußerst kurzlebig und von eher oberflächlicher Natur man könnte sich einen russischen Symbolisten kaum als Verfasser von Oscar Wildes genialem Essay The Soul of Man under Socialism vorstellen. Als es im Jahre 1901 zu gewaltsamen Unterdückungen von Studentenunruhen kam, forderte Gorki den führenden Symbolisten Waleri Brjussow dazu auf, sich seinem Protest gegen das Vorgehen der zaristischen Regierung anzuschließen. Die Antwort ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig: „Mich bewegen niemals diese Äußerlichkeiten, diese plötzlichen Ereignisse. Warum soll ich mich der Studenten wegen aufregen? Als ob es das, genau dasselbe, nicht schon tausendmal in der Vergangenheit gegeben hätte ... Schon lange habe ich mir abgewöhnt, alles vom Standpunkt der Ewigfkeit zu betrachten." (16)
Die große Feuerprobe der Revolution von 1905 offenbarte dann endgültig, wo Russlands kleinbürgerliche Intelligenz wirklich stand und wurde gleichzeitig zum entscheidenden Wendepunkt in ihrer Entwicklung. Dabei ist es gar nicht so einfach zu entscheiden, was wichtiger war dass die Revolution scheiterte oder dass sie überhaupt stattgefunden hatte.


Fortsetzung folgt ...


(1) In: Fantastic Metropolis. Mai 2003.
(2) Helena Blavatsky: The Original Program of the Theosophical Society.
(3) Leo Trotzki: Mein Leben, Versuch einer Autobiographie. S. 92.
(4) Vgl. Hans von Rimscha: Geschichte Rußlands. S. 376. Jemeljan Pugatschow war der Führer des großen russischen Bauernaufstands von 1773-75 gewesen.
(5) Zit. nach: G. W. Plechanow: N. A. Nekrassow. Zum 25. Todestag. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 722.
(6) Zit. nach: Leo Trotzki: Der junge Lenin. S. 62.
(7)  Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Kap. 18.
(8) Max Eastman: Leon Trotsky: The Portrait of a Youth. Kap. 6.
(9) N. A. Nekrassow: Dichter und Bürger. Zit. nach: G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 232.
(10) Maxim Gorki: Sommergäste. 4. Akt.
(11) Gorki an A. A. Dawilkovski am 11. 12. 1904. Zit. nach: Maxim Gorki: Sommergäste. S. 125. 
(12) G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 237.
(13) Stephen Graham: One of the Higher Intelligentsia. In: The Russian Review, Bd. 1, Nr. 4 ([London], 1912). S. 120. Zit. nach: Joan Neuberger: Hooliganism: Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900-1914. Kap. 1.
(14) Sinaida Hippius: Die Spinnen. In: Christa Ebert (Hg.): Gamajun, kündender Vogel. S. 13/15.
(15) Zit. nach: Anatoli Lunatscharski: Blok und die Revolution. In: Ders.: Die Revolution und die Kunst. S. 207.
(16) Zit. nach: Helene Imendörfer: Nachwort zu Maxim Gorki: Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. S. 739.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen