"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 10. Juni 2013

Das Frühlingsopfer

Letzten Monat jährte sich zum einhundertsten Mal die legendäre Pariser Uraufführung von Igor Strawinskijs Ballett Le Sacre du Printemps, einem der prägenden Stücke der musikalischen Moderne. Nun bin ich zwar wirklich kein Experte in Sachen Musik – was mich nicht davon abhalten soll, allen meinen Lesern & Leserinnen dringend zu empfehlen, sich dieses fantastische Werk einmal anzuhören, falls sie noch nicht mit ihm vertraut sind (1) –; aber da ich mich vor bald einem Jahrzehnt im Zusammenhang mit einer {nie fertiggestellten} Arbeit über den Buddhismus im jungen Sowjetrussland auch mit dem Maler Nikolai Roerich beschäftigt habe, der neben dem Komponisten wohl am meisten zur Entstehung dieses Meisterwerkes beigetragen hat, dachte ich mir, ich könnte die entsprechenden Passagen aus meinem Manuskript anlässlich dieses Jubiläums hier einmal in leicht abgewandelter Form präsentieren. (2)

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert breitete sich in großen Teilen der russischen Intelligenzija eine starke Faszination für einen {meist asiatisch angehauchten} Mystizismus aus. {Wie es dazu kam, will ich an dieser Stelle nicht genauer ausführen, doch wer sich für den sozialen Kontext dieser Entwicklung interessiert, sollte sich einmal Maxim Gorkis Theaterstück Sommergäste zu Gemüte führen.}
Die Formen, die dieser Mystizismus annahm, waren ausgesprochen vielfältig – von Dmitri Mereschkowskijs eher christlich geprägtem "neuem religiösen Bewusstsein", über das Rosenkreuzertum und den auf die Lehren Joseph Alexandre Saint-Yves d’Alveydres basierenden "Ordre Martiniste", bis hin zur theosophischen Heilslehre Helena Blavatskys. Letztenendes schuf sich jeder dieser Individualisten eine auf den persönlichen Geschmack zugeschnittene Privatreligion. Zu den theosophisch beeinflussten Künstlern Russlands zählten u.a. so bedeutende Persönlichkeiten wie der Komponist Aleksandr Skrjabin und die Pioniere der abstrakten Malerei Vassilij Kandinskij und Kasimir Malewitsch. Skrjabins unvollendetes Projekt Mysterium eine Verschmelzung von religiösem Ritual und wagnerianischem Gesamtkunstwerk – lässt den theosophischen Einfluss unschwer erkennnen:

.’Mystery’ was to be a massive performance without spectators, only participants. Music, dance, poetry, a light show, and even perfumes were incorporated into the score. Its opening chords were to be struck in the Tibetan Himalayas, continue way over to England, and culminate in a moment of mystic union on the banks of the Ganges.Mystery’ would be an expression of a single, universal truth, a synthesis of music, poetry, dance, and light. (3)
Andrej Belyj  einer der führenden Vertreter des Symbolismus und der vielleicht bedeutendste Prosaiker dieser Schule begann sich ab 1896 mit der Theosophie auseinanderzusetzen, lernte 1901 Anna Sergejewna Gonearowa  die Gründerin des ersten theosophischen Zirkels in Moskau kennen und beschäftigte sich in den folgenden Jahren intensiv mit den Schriften Blavatskys, nur um sein Heil schließlich in Rudolf Steiners Anthroposophie zu finden.
Der bekannteste Vertreter des asiatisch inspirierten Okkultismus war jedoch ganz ohne Zweifel der Maler Nikolai K. Roerich. Während der Einfluss der theosophischen Philosophie und Symbolik auf Werke wie Belyjs Roman Petersburg oder Skrjabins Prometheus sicher nicht zu leugnen ist, erschöpft sich deren Bedeutung doch nicht in der Darstellung okkulter Lehren. (4) Bei Roerich jedoch überwucherte der Mystizismus schließlich beinahe sein gesamtes künstlerisches Schaffen und machte aus dem Maler letztenendes eine etwas tragikomische Gestalt. Und auch wenn seine Metamorphose zum Guru des Agni Yoga erst nach der Oktoberrevolution in der Emigration einsetzte, waren die Grundlagen für diese Entwicklung doch bereits in den Jahren zuvor gelegt worden.

1874 als Sohn des angesehenen und wohlhabenden Rechtsanwaltes Konstantin Fjodorowitsch Roerich in St. Petersburg zur Welt gekommen, wuchs er in einer kultivierten und weltoffenen Umgebung auf. Zum Freundeskreis des Vaters, der ein überzeugter Anhänger der liberalen Reformen der 60er Jahre war, gehörten so bedeutende Persönlichkeiten wie der berühmte Chemiker Dmitrij Mendelejew, der Folklorist Kostomarow, die Orientalisten Golstunskij und Podzdnejew sowie der Maler und Bildhauer Michail Mikeschin.
Nach seinem Studium an der Kaiserlichen Kunstakademie, näherte sich Roerich nach und nach der Gruppe Mir Iskusstwa ("Welt der Kunst") an, der er allerdings erst 1903 – ein Jahr vor ihrer Auflösung – endgültig beitrat. Der Kreis junger Maler um den Kunstkritiker Sergej Djagilow bildete in gewisser Weise das Pendant zum Zirkel der Symbolisten in der Literatur. Man lehnte sowohl den verstaubten akademischen Stil als auch den sozialen Realismus der Peredwischniki (5) ab, verkündete die Prinzipien des l’art pour l’art und war darum bemüht, die russische Malerei für die Errungenschaften der europäischen Avantgarde zu öffnen. Die im Januar 1899 eröffnete internationale Mir Isskustwa - Ausstellung machte das russische Publikum erstmals mit den aktuellen Strömungen des Impressionismus und Post-Impressionismus bekannt. Viele Mitglieder der Gruppe standen dem mystisch-philosophischen Kreis um Mereschkowskij nahe. Ihre Rolle als Avantgarde der russischen Malerei war allerdings nur von kurzer Dauer. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Russland eine Epoche stürmischer Entwicklungen. Mit Kubismus, Futurismus und Expressionismus standen schon bald ganz andere Stilrichtungen an der Spitze der künstlerischen Bewegung. Ab 1910 war die Künstlergruppe Karobube das Zentrum der Avantgarde und Mir Isskustwa gehörte längst der Vergangenheit an.

Es ist kennzeichnend für Roerichs Weltanschauung, dass er wie jeder slawophile Romantiker auf die Frage "Welche historischen Persönlichkeiten mögen Sie am wenigsten?" die Antwort gab: "Peter der Große". (6) Der Maler sehnte sich aus der Gegenwart in einen harmonischen Urzustand zurück, von dem er glaubte, dass er einstmals existiert habe. Der große Herrscher des 17. Jahrhunderts, der Russland mit der Knute des Despoten auf den Weg einer modernen Entwicklung gezwungen und das "Fenster nach Europa" geöffnet hatte, musste ihm deshalb als der böse Geist der russischen Geschichte erscheinen. Ein Lobsänger altrussischer Bojarenherrlichkeit war Nikolai Roerich trotzdem nicht. Auch wenn manche seiner frühen Gemälde in einer klar definierten historischen Epoche angesiedelt sind – im 9./10. Jahrhundert, der Ära der Waräger und der Gründung der Kiewer Rus –, war er doch nie ein Historienmaler im eigentlichen Sinne des Wortes. Patriotische Großtaten oder epische Schlachtszenen interessierten ihn nur wenig. Er suchte in der Vergangenheit vielmehr nach einem kulturellen Gegenentwurf zur trivialen und hässlichen Gegenwart:

Es gibt heute nicht mehr viel Schönheit. Alles Schöne ist aus unseren Häusern, den Dingen des alltäglichen Lebens, aus uns selbst und unserer Arbeit verschwunden..., denn Schönheit wird nicht mehr benötigt, wo die große Niedergeschlagenheit unserer Zeit – die allmächtige Geschmacklosigkeit vorherrscht, wo sie über das Sehen und Fühlen der Menschen regiert.
Anders als die meisten Künstler des fin de siècle hatte Roerich nur wenig übrig für barocke Pracht oder einen überfeinerten Ästhetizismus. Wahre Schönheit glaubte er vor allem im Einfachen und Archaischen finden zu können. Der Kritiker Aleksandr Benois, der zum inneren Kreis der Mir Isskustwa - Gruppe gehörte, beschrieb diesen Unterschied folgendermaßen:

Roerich und ich haben verschiedene Ansichten zur Geschichte der Menschheit und des Menschen selbst: Wir haben unterschiedliche Weltbilder, die tief in uns verwurzelt sind. Ich schätze alles, was vollständig ist, alle Dinge, in denen die Idealvorstellungen bereits perfektioniert worden sind... Roerich dagegen fühlt sich zur Wildnis hingezogen, zur Entfernung, zu Urvölkern, zu der Entstehung von Formen und Ideen. In allen seinen Werken, mit all seiner Inspiration macht er seine Meinung geltend, daß das Gute der Kraft innewohnt - daß sich das Gute in der Vereinfachung und der Weiträumigkeit zeigt - und daß es notwendig ist, am Anfang zu beginnen. Ich schätze die Sprache Pushkins und wäre froh, wenn jedermann die Sprache der Götter sprechen würde, denn in dieser feinsinnigen Sprache findet sich soviel Wahrheit. Für den Künstler Roerich, für den Träumer Roerich und aufgrund seiner Vorliebe für die Vorgeschichte wäre es nichts Erschreckendes, zu der einfachen Sprache der Wilden zurückzukehren, solange nur der Instinkt klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wird und solange es nicht die Falschheit und Verwirrung der sogenannten Zivilisation geben würde. (7)
Roerichs Archaismus war nicht nur eine Frage des künstlerischen Geschmacks, sondern – wie Benois ganz richtig bemerkt – ein Ausdruck seiner "Ansichten zur Geschichte der Menschheit und des Menschen selbst". Wenn er die Meinung vertrat, "daß es notwendig ist, am Anfang zu beginnen", seine Sympathie und Aufmerksamkeit den "Urvölkern" zuwandte und sich über "die Falschheit und Verwirrung der sogenannten Zivilisation" ereiferte, so sprach aus ihm die Überzeugung, der gesamte Entwicklungsgang der europäischen Kultur und Gesellschaft sei letztlich ein einziger tragischer Irrweg gewesen. Mit der Epoche der Waräger beschäftigte er sich wohl deshalb, weil sie den Beginn der schriftlich fixierten historischen Überlieferung Russlands darstellt. Doch sein eigentliches Verlangen war auf eine Welt jenseits der Geschichte gerichtet. Die innere Dynamik des historischen Prozesses mit seinen zahllosen Konflikten und Brüchen war unvereinbar mit seiner Vorstellung von ‘Wahrheit’ und ‘Schönheit’. Er sehnte sich nach einem vermeintlich entwicklungs
losen außer- oder vorgeschichtlichen Zustand der Harmonie. Konsequenterweise stand denn auch nicht die Kiewer Rus im Zentrum seines frühen Schaffens, sondern die Steinzeit.
Bereits in seiner Jugend hatte Roerich sich ernsthaft mit archäologischen Ausgrabungen beschäftigt. Hinzu kam ein starkes Interesse an Mythenforschung und Ethnologie. Das so erworbene Wissen floss auch in seine Gemälde ein. Dennoch sollte man sie nicht als Versuch interpretieren, das reale Leben der Menschen in einer prähistorischen Gesellschaft darzustellen. Vielmehr entwarf Roerich in ihnen das Bild eines Goldenen Zeitalters, in welchem der Mensch noch in Einklang mit der Natur und den himmlischen Mächten gelebt habe. Ein typisches Beispiel für diese romantische Vision von einem vorzeitlichen Idyll ist das 1911 entstandene Bild Vorväter des Menschen. Vor dem Hintergrund einer in zarten Pastelltönen gehaltenen Hügellandschaft sitzt ein Mann in altslawischer Tracht und spielt auf einer Rohrflöte. Sechs Bären haben sich rund um ihn herum friedlich ins Gras gelagert und scheinen seinem Spiel zu lauschen. Was auffällt, sind die mythologischen Bezüge. Der Kunsthistoriker Sergej Ernst hat sehr treffend von einer slawischen Version des Orpheus-Mythos gesprochen. Die Bären verweisen außerdem auf eine uralte slawische Überlieferung, derzufolge Meister Petz der Vorfahr des Menschen gewesen seien soll. In Roerichs vorzeitlichen Welten sind Mythos, Geschichte und Natur noch eins. Die sich in grenzenlose Fernen erstreckenden Hügellandschaften; der unendlich hohe und weite Himmel, der manchmal gut drei Viertel eines Gemäldes ausfüllt – dies alles lässt die Natur als eine ehrfurchtgebietende, quasigöttliche Macht erscheinen, der gegenüber der Mensch winzig und bedeutungslos wirkt. Man spürt, diesen Bildern liegt die Idee einer zugleich natürlichen wie gottgegebenen Ordnung der Dinge zugrunde, in die der Mensch sich einzufügen hat. Bei Vorväter des Menschen ist der Flötenspieler praktisch zu einem Teil der ihn umgebenden Landschaft geworden. Doch muss die Unterordnung des Menschen unter die Natur keineswegs immer solch idyllische Formen annehmen. Das Gemälde Befehle des Himmels z.B. ruft im Betrachter ganz andere Empfindungen wach. Das Bild zeigt einen bedrohlichen, wolkenverhangenen Himmel. Auf einem Hügel im Vordergrund hat sich eine Gruppe kleiner menschlicher Gestalten versammelt, die ihre Arme in einer Geste der Anbetung und Unterwerfung erhoben haben. Die gesamte Szenerie ist in rötliches Licht getaucht – ob von den Strahlen der untergehenden Sonne oder von den Flammen des göttlichen Feuers ist nicht auszumachen. Der Mensch als gehorsamer Diener der himmlischen Mächte – dies war Roerichs Ideal. Bilder wie der 1903 entstandene Bau der Schiffe, in denen der Mensch als Schöpfer von Kultur und Zivilisation dargestellt wird, bilden die große Ausnahme.
Die wohl bedeutendste Frucht dieser ‘Steinzeit-Periode’ im Schaffen Roerichs war jedoch kein einzelnes Gemälde, sondern die Zusammenarbeit mit Igor Strawinskij an Le Sacre du Printemps (‘Das Frühlingsopfer’). (8)
Sergej Djagilew hatte die beiden 1910 miteinander bekannt gemacht, und der Maler unterbreitete dem Komponisten bald darauf den Vorschlag für ein Ballettszenario: (9) In grauer Vorzeit versammelt sich ein Slawenstamm in der Nähe eines Heiligen Hügels, um den Beginn des Frühlings zu feiern. Höhepunkt der heiligen Riten und mystischen Tänze, die unter Leitung der Stammesältesten durchgeführt werden, ist ein Menschenopfer. Ein vom Schicksal auserwähltes Mädchen wird dem Sonnengott Yarilo dargebracht. In wilder Ekstase tanzt sich das junge Opfer im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode und ermöglicht so die Wiedergeburt des Frühlings.

Roerich lieferte nicht nur die Grundidee für das Szenario, er entwarf auch die Bühnenbilder und Kostüme für die legendäre Pariser Uraufführung vom Mai 1913 (10) und übte darüberhinaus einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Choreographie Waslaw Nijinskys aus. Nicht ohne Grund sprachen Strawinskij und er von ‘unserem Kind’.
Hier zeigte sich, dass Roerich mehr war als ein Neoromantiker, der sich in eine idealisierte Steinzeit zurückträumte. Um so bedauernswerter ist seine spätere Entwicklung, die ihn zu dem etwas lächerlichen Guru einer esoterischen Sekte machte, worunter auch sein künstlerisches Schaffen zu leiden hatte. Selbstverständlich ist es in erster Linie Strawinskijs atemberaubende Musik, die Le Sacre du Printemps zu einem der bedeutendsten Werke der Moderne macht. Dennoch sollte man Roerichs Beitrag nicht unterschätzen. Bei dieser Arbeit bewies er wirkliches Einfühlungsvermögen in eine archaische Gefühls- und Gedankenwelt. Das Universum, das er uns dadurch eröffnet, ist kein friedliches Idyll, sondern wird von harten und grausamen Gesetzen beherrscht. Leben und Tod scheinen aufs engste miteinander verflochten zu sein. Damit die Natur im Frühling zu neuem Leben erwachen kann, muss ein Mensch den Tod erleiden. Das Opfer vollzieht sich in Form eines Tanzes. Der Ausdruck höchster Lebenskraft schlägt dabei um in die Vernichtung eines Lebens. Doch aus diesem Tod erwächst neues Leben für die Natur und die Stammesgemeinschaft. Eine ebenso faszinierende wie erbarmungslose Sicht der Welt.

Trotz der Härte seines "archaischen Realismus" fügt sich Le Sacre du Printemps sehr gut in Roerichs Gesamtwerk aus diesen Jahren ein, liegt dem Frühlingsopfer doch die Idee des ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten zugrunde.
Die Natur als ein von unveränderlichen Gesetzen des Werdens und Vergehens beherrschter Bereich der Wirklichkeit war nicht nur für Roerich eine bevorzugte Zufluchtsstätte vor der beunruhigenden Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch Afanassi Fet, der letzte große Dichter des russischen Adels, hatte in seiner Lyrik immer wieder einen solchen außergeschichtlichen  Naturzustand heraufbeschworen. Der entscheidene Unterschied zwischen den beiden besteht jedoch darin, dass der Dichter seine zyklische Zeitvorstellung aus der unmittelbaren Anschauung der Natur – der blühenden Blumen im Gedicht Georginen etwa (11) – entwickelte. Benutzte er doch einmal mythisch-märchenhafte Formulierungen, so nur zur poetischen Umschreibung einer an sich völlig "alltäglichen" Erscheinung, so wenn er den anbrechenden Frühling "Prinzessin-Braut" nannte. (12)
Es ist gesagt worden, Fets Gedichte zeigten die Welt wie in den ersten Schöpfungstagen. Dies trifft insofern zu, als die Welt sich hier noch ihre natürliche Unschuld bewahrt hat. Auch wenn der Dichter vom Bauern bestellte Äcker oder saftige Viehweiden beschreibt, so ist dies keine Erde, die sich der Mensch untertan gemacht hätte. Andererseits sind Fets Landschaften keine Szenen aus einem verlorenen Garten Eden, sondern unmittelbare Eindrücke der ihn umgebenden Wirklichkeit. Als einem der letzten künstlerischen Vertreter der untergehenden Feudalwelt war dem dichtenden Gutsbesitzer noch ein wirklich ungebrochenes Verhältnis zur Natur zu eigen gewesen.

Wie fern stehen Roerichs archaische Steinzeitlandschaften dem zarten Impressionismus Fets! Mochte er auch in seiner Kindheit viel Zeit auf dem väterlichen Landsitz Iswara verbracht und sich in seiner Jugend begeistert der Jagd gewidmet haben, im Herzen blieb Nikolai Konstantinowitsch stets ein Stadtmensch, dem der unmittelbare Bezug zur Natur für immer fremd bleiben musste. Eben deshalb stürzte er sich ja mit solcher Begeisterung in vergangene Zeiten und in die Welt der Märchen und Mythen. Er war auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Roerich musste sich seine "unschuldige Natur" erst konstruieren, er konnte sie nicht mehr wie Fet unmittelbar erleben. Was dabei heraus kam, war eine sehr viel abstraktere – man könnte auch sagen philosophischere – Betrachtungsweise. Statt naiver Anschauung intellektuelle Konstruktion. Eben dies war der Ausgangspunkt für Roerichs wachsendes Interesse an der indischen Kultur, Religion und Philosophie. Seine Biographin Jacqueline Decter schreibt darüber:
Roerichs Glaube, daß der Mensch der Moderne vieles von den alten, vorgeschichtlichen Kulturen lernen könne, leitete ihn zu dem fundamentalen Lehrsatz in der östlichen Philosophie, daß die Geschichte des Universums nicht linear, sondern zyklisch ist. Die östliche Vorstellung ‘einer immer wiederkehrenden Philosophie, einer zeitlosen Weisheit, die sich wieder und wieder offenbart, neu geschaffen wird, verlorengeht, um erneut durch den Zyklus der Zeit wiedererschaffen zu werden’, war seinen eigenen Vorstellungen viel näher als die verhältnismäßig moderne westliche Vorstellung, die die Geschichte als ein sich immer weiterentwickelndes Phänomen ansieht. (13)
Es muss immer wieder betont werden, dass dieses zyklische Geschichtsbild ursprünglich auf der Basis einer vorwiegend agrarischen Gesellschaftsordnung entstanden war. Es entsprach den tatsächlichen Lebenserfahrungen der altindischen Philosophen. Dies traf auf Roerich nicht zu. Im Gegenteil – die russische Gesellschaft der Jahrhundertwende durchlebte eine Phase stürmischster Entwicklung. Der große Theaterregisseur Konstantin Stanislawskij, mit dem der Maler am Moskauer Künstlertheater zusammenarbeitete, begann seine Autobiographie mit den Sätzen:
Ich wurde an der Grenze zweier Epochen geboren. Ich war Zeuge der Entwicklung vom Talglicht zum elektrischen Scheinwerfer, von der Reisekutsche zum Flugzeug, vom Segelschiff zum U-Boot, von der Kurierpost zum Telegraphen, vom Steinschloßgewehr zur Dicken Bertha, von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus. (14)
Angesichts dieser ungeheuren Dynamik einem Weltbild zu huldigen, das mit dem Prediger Salomonis der Meinung war, es gäbe nichts neues unter der Sonne, bedeutete ganz einfach Flucht vor der Wirklichkeit.

Kurioserweise erwähnt Jacqueline Decter in ihrer Roerichbiographie mit keinem Wort die Revolution von 1905 oder die Stellung des Künstlers zu den dramatischen Ereignissen dieses Jahres. Doch dürfte es kein Zufall sein, dass Roerichs gesteigertes Interesse an Indien in eben dieser Zeit erwacht zu seien scheint. Freilich hatte er schon in seinen Studentenjahren die Theorien des Historikers Wladimir Stasow kennengelernt, der an eine tiefgehende innere Verwandtschaft zwischen altrussischer und indisch-asiatischer Kultur glaubte. Stasows Ideen beschäftigten Roerich sein Leben lang und bildeten das Bindeglied zwischen seinen slawophilen Neigungen und der zunehmenden Faszination für die asiatische Geisteswelt. Doch erst seit ungefähr 1905 begann er sich eingehend mit der Bhagavad Gita, dem Gedankengut der Hindureformer Ramakrishna und Vivekananda sowie dem Werk des berühmten indischen Schriftstellers Rabindranath Tagore auseinanderzusetzen. Er knüpfte enge Kontakte zur neugegründeten Loge der Theosophen und träumte zusammen mit dem Orientalisten Fjodor Stcherbatskij allen Ernstes davon, einen Hindutempel aus Indien nach St. Petersburg transportieren zu lassen. Bald schon lernte er auch den äußerst rührigen burjatischen Lama Agvan Dorschiew kennen und wurde Mitglied in dem Komitee, das ab 1909 den Bau eines buddhistischen Tempels (datsan) in St. Petersburg überwachte. Seine Frau Elena, die in späteren Jahren Blavatskys The Secret Doctrine – sozusagen die Bibel der Theosophen – ins Russische übersetzte, war ihm eine begeisterte Gefährtin in seinen Streifzügen durch die Wunderwelt der indischen Mystik. Ob Roerich allerdings tatsächlich im Jahre 1913 dem Orde Martiniste beitrat, ist heftig umstritten. Als gesichert kann nur gelten, dass er in den okkultistischen Kreisen, in denen er nunmehr verkehrte, Saint-Yves d’Alveydres Lehre vom unterirdischen Wunderreich Agharta kennenlernte, die ihn offenbar nachhaltig beeinflusste Auch teilte er mit den Martinisten den Glauben an eine bevorstehende mystische Wiedergeburt Russlands. In seinem Schaffen als Maler schlug sich Roerichs asiatischer Okkultismus vorerst noch kaum nieder. Er blieb auch weiterhin bei seinen archaisch-slawischen Motiven und schuf u.a. den gewaltigen Bogatyri-Fries für das Haus des Petersburger Industriellen F. G. Baszhanow, der 1910 fertiggestellt wurde und auf dem Roerich die Recken (bogatyri) der altrussischen Bylinen (Heldenepen) darstellte. Auch Roerichs religiöse Kunstwerke aus dieser Zeit stehen noch ganz in christlich-orthodoxer Tradition, so fertigte er z.B. gewaltige Fresken für die Kirche des Heiligen Geistes in Talaschkino an. Erst die Ereignisse von 1917 würden die Saat zum reifen bringen, die in diesen Jahren gelegt worden war.


(1) Und wer die Möglichkeit dazu hat, sollte sich auf jedenfall einmal Pia Bauschs  Inszenierung/Choreographie von Sacre du Printemps anschauen.
(2) Freundinnen & Freunde der phantastischen Literatur werden den Namen des Malers vielleicht aus At the Mountains of Madness kennen, vergleicht Lovecraft dort doch die bizarren Gebirgsformationen, die seine Helden  in der Antarktis entdecken, mit Roerichs Gemälden von buddhistischen Klöstern im Himalaja.
(3) James von Geldern: Bolshevik Festivals, 1917-1920. S. 36f.
(4) Vgl.: Maria Carlson: Fashionable Occultism: The World of Russian Composer Aleksandr Scriabin.
(5) Die Bewegung der Peredwischniki (‘Wanderaussteller’) war 1863 entstanden, als sich vierzehn Studenten der Akademie weigerten, das vorgeschriebene konventionelle Abschlussthema zu behandeln, und stattdessen begannen, auf eigene Faust Wanderausstellungen abseits des akademischen Betriebs zu organisieren. Bedeutende Vertreter dieser ‘Schule’ waren u.a. I. N. Kramskoi, N. N. Ge, I. J. Repin und der Historienmaler W. I. Surikow.
(6) Vgl.: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 3.
(7) Zit. nach: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 4.
(8) Der russische Name des Stückes Vesna svjašennaja bedeutet eigentlich Heiliger Frühling.
(9) Strawinskij selbst behauptete später allerdings, ihm sei die erste Idee zu Sacre du Printemps bereits während seiner Arbeit am Feuervogel gekommen. Ich maße mir kein Urteil in dieser Streitfrage an.
(10) Für Bilder siehe: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 5.
(11) "Ich ging in deinen Georginen/ Gestern, als rot die Sonne schwand,/ Und üppig jegliche von ihnen,/ Wie eine Odaliske stand.// Wie viele feurige Gesichter,/ Geneigt die samtnen Wimpern stumm,/ Erschöpfte traurige und frohe/ Und stolze lächelten ringsum!// Es war, als wollt ihr Trug nie enden/ Tief in der Stille weichem Schoß, -/ Und heut nach morgendlichen Frösten/ Stehn sie gebräunt und anmutslos.// Doch Schönheit, Zauber, Reiz entstehen/ Nun rätselvoll aus ihnen neu,/ Und mit dem schweigenden Vergehen/ Zu grolln, verwehrt mir eine Scheu." (Afanassi Fet: Gedichte. S. 57.)
(12) "Ich harrte. Als Prinzessin-Braut/ Stiegst du erneut zur Erde nieder./ Der Morgen leuchtet purpurn wider,/ Und hundertfältig schenkst du wieder,/ Was uns der karge Herbst geraubt.// Du siegtest, flohst mit raschem Flügel,/ Geheimes raunt die Gottheit sacht,/ Es grünt der frische Gräberhügel,/ Von ihrem Sieg jauchzt ungezügelt/ Eine besinnungslose Macht." (Afanassi Fet: Gedichte. S. 61.)
(13) Jacqueline Decter: Nicholas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 6.
(14) Zit. nach: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 40.

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