"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 27. Mai 2012

Potential und Risiko

Phenderson Djèlí Clark hat erneut einen sehr interessanten Post in seinen 'Musings of a Disgruntled Haradrim' veröffentlicht. Er geht darin von der auffälligen Erscheinung aus, dass unter all den modischen xyz-Punk-Strömungen der letzten Jahre eine einzige Zeitperiode keine 'retro-futuristische' Bearbeitung gefunden hat: Die Ära der weltweiten politischen Radikalisierung in den 60er und frühen 70er Jahren. Steampunk beschäftigt sich mit dem viktorianischen und edwardianischen Zeitalter, das in den 1. Weltkrieg mündete. Dieselpunk nimmt sich der 20er-40er Jahre, Atomicpunk der 50er und frühen 60er Jahre an. Cyberpunk schließlich ist ein Kind der 80er Jahre und bleibt diesem Jahrzehnt bis heute in vielem verhaftet. Warum nicht eine neue Stilrichtung gründen, die Phenderson Djèlí Clark 'Revolutionpunk' tauft?

"So can the politics and social movements of alternate-retro-futures instead be the dominant theme for new ideas on punk, with the tech as more so secondary? If so, how could we imagine this sub-genre I’d like to call Revolutionpunk!
What if the turbulent, radical movements of the 1960s and early 1970s never lost their potency? In the US, what if the Civil Rights Act had never been passed? What if the Vietnam War hadn’t ended, despite the protests, but continued to expand and send draftees into a decades long stalemate? How radicalized might segments of the US population  become?
What if radical social justice groups from the Black Panthers to the Brown Berets to the anti-racist White Panthers (yes, White Panthers - That happened!) still existed and were popular as ever – with varied splinter groups? What if the Stonewall Riots had engulfed all of New York, as other groups turn it into a large-scale rebellion? The Wounded Knee incident sparks similar occupation-style movements in cities and towns. Gloria Steinem has become leader of the Redstockings after a failed women’s liberation movement, while SDS is an opposition political party holding office within the system."

Das klingt erst einmal wie eine echt coole Idee, und ich könnte mir auch sofort eine deutsche Variante davon vorstellen. Ein paar Stichworte zur Anregung? Rudi Dutschke, 'Ho-ho-ho Chi Minh', Bambule, Kommune 2, RAF, Revolutionäre Zellen, wilde Streiks, Rote Zora, die K-Gruppen und die Anti-AKW-Proteste der 70er. Was für ein Material!
Doch leider melden sich auch sofort Bedenken. Die naheliegendste Antwort auf die Frage, warum sich bisher keine 'Punk'-Richtung dieser Zeit zugewandt hat, ist auch Phenderson Djèlí Clark nicht fremd. Der 'Retro-Futurismus' in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zeichnet sich in seiner Mehrheit durch eine nostalgische Romantisierung der Vergangenheit aus, und eine solche Geisteshaltung verträgt sich nur schlecht mit dem rebellischen Geist der 60er/70er Jahre. Natürlich ist auch die 68er-Nostalgie ein nicht ganz unbekanntes Phänomen und könnte den Ausgangspunkt für 'Revolutionpunk' bilden. Bloß wäre das nichts wirklich wünschenswertes.
Ich fürchte, in der heutigen politischen und kulturellen Atmosphäre würde sich 'Revolutionpunk' durch eine Mischung aus spöttischer Ironie und unreflektierter Rebellenromantik auszeichnen. Das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können. 'Revolutionpunk' würde nur dann sein Potential entfalten können, wenn es zugleich getragen würde von einer Wiederbelebung des revolutionären Geistes jener Epoche und einer linken Kritik der damals vorherrschenden politischen Ideen. Auf Humor, Ironie und wilde Abenteuer müsste deshalb nicht verzichtet werden. Aber die Voraussetzung dafür wäre ein korrektes Verständnis für die Gründe, warum jene Rebellengeneration ihre Ziele letztlich nicht erreichte. Und die Antwort lautet nicht: Weil Menschen immer Egoisten bleiben werden.
Wäre dies gegeben, so könnte 'Revolutionpunk' dazu beitragen, auf kritische Weise an das Erbe der 68er anzuknüpfen. Doch leider glaube ich, dass die Mehrheit der heutigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller dieser Herausforderung (noch) nicht gewachsen wäre. Insofern wäre es vielleicht sogar ganz gut, wenn Phenderson Djèlí Clarks Idee vorerst einmal eine Idee bleibt.

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